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Medienmitteilungen der OST

«Inklusion ist nicht nur in gesunden Tagen wichtig, sondern auch, wenn es ums Sterben geht»

Medienmitteilung vom 4. April 2025

Lebensverlängernde Therapien, ja oder nein? Lieber zuhause sterben oder im Spital? Das sind Fragen, die sich jede und jeder spätestens am Lebensende stellt. Doch Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung fällt es schwerer, Empfindungen mitzuteilen und den eigenen Willen zu äussern. Hinzu kommt oft eine hohe Abhängigkeit von anderen Personen aufgrund der eingeschränkten Urteilsfähigkeit. Dies erschwert dieser vulnerablen Gruppe den Zugang zum Gesundheitssystem im Allgemeinen und zur palliativen Versorgung im Besonderen. Regula Göldi arbeitet auf einer Akutpalliativabteilung. In ihrer Masterarbeit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule hat sie die Tabuthemen «Sterben und Tod» sowie «kognitive Beeinträchtigung» miteinander verknüpft und untersucht, wie die Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen besser berücksichtigt werden können.

Die Pflege vom Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung auf einer Palliativstation setzt andere Rahmenbedingungen voraus.

Regula Göldi, welche Erfahrungen oder Ereignisse in Ihrem Berufsalltag gaben Ihnen den Anstoss, sich dem Thema Palliative Care bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zu widmen?

In meinem Berufsalltag im Spital Affoltern kam es hin und wieder zu prägenden Situationen. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir, als ein Mann mit einer sehr schweren kognitiven Beeinträchtigung nach einem Schädel-Hirn-Trauma aus seinem Wohnheim zu uns auf die Akutpalliativ-Abteilung verlegt worden ist. Die Entscheidungsfindung bezüglich lebensverlängernder Therapien gestaltete sich sehr schwierig, da in diesem Zusammenhang keine Willensäusserungen des Patienten bekannt waren. Der Mann war durch die ihm fremde Umgebung im Spital offensichtlich gestresst und reagierte aggressiv. Es wurde deshalb eine Rückverlegung ins Wohnheim veranlasst. Der Aufwand für das Wohnheim und für die Akutpalliativabteilung war gross. Rückblickend wäre es wohl im Sinne aller Beteiligten besser gewesen, den Betroffenen für die Entscheidungsfindung im Wohnheim zu begleiten. 

In Ihrer Masterarbeit zeigen Sie unter anderem auf, dass Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung einen erschwerten Zugang zum Gesundheitssystem im Allgemeinen und zur Palliative Care im Besonderen haben? Warum ist das so?

Je nach Schweregrad der kognitiven Beeinträchtigung ist die Kommunikationsfähigkeit stark eingeschränkt. Betroffene drücken deshalb zum Beispiel Schmerzen oft anders oder manchmal auch gar nicht aus. Zudem ist es meist schwieriger, diagnostische Massnahmen wie eine Blutentnahme oder eine Röntgenuntersuchung durchzuführen. Das kann dazu führen, dass Krankheiten nicht oder zu spät erkannt werden. Hinzu kommt, dass viele Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung nicht urteilsfähig und deshalb von den Entscheidungen anderer Menschen abhängig sind. Das kann mitunter zu sehr komplexen Situationen führen. Etwa, weil ein Netzwerk aus verschiedenen Akteurinnen und Akteuren berücksichtigt werden muss.  Aber auch, weil es zu ethischen Dilemmata kommen kann – gerade, wenn es um Betreuung am Lebensende geht. Beispielsweise, weil bestimmte Personen sich nicht an der Entscheidungsfindung beteiligen dürfen, obwohl sie den oder die Betroffene und seine beziehungsweise ihre Bedürfnisse möglicherweise besser kennen als Personen, die mitentscheiden dürfen.

Werden Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung also unterversorgt?

Aufgrund der hohen Abhängigkeit und der eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten besteht die Gefahr einer Unterversorgung. Es kann aber auch zu einer Überversorgung kommen. Denn wenn keine Willensäusserungen der Patientinnen und Patienten vorliegen, werden vielleicht eher belastende lebensverlängernde Therapien umgesetzt, obwohl der oder die Betroffene möglicherweise den Wunsch gehabt hätte, zu sterben. Deshalb ist eine gesundheitliche Vorausplanung wichtig. Damit lässt sich eine bestmögliche Annäherung daran festhalten, wie ein Mensch mit kognitiver Beeinträchtigung zu Fragen über Leben und Tod steht und welche Behandlung sich diese Person am Lebensende wünscht. Betroffene wollen in gesundheitliche Entscheidungsfindung involviert sein. Sie haben ein Recht darauf, Informationen zu ihrem Gesundheitszustand zu erhalten und ihre Wünsche bezüglich der Gestaltung des Lebensendes mitzuteilen.

Eine Möglichkeit, die eigenen Wünsche zur Betreuung am Lebensende festzuhalten, ist die Patientenverfügung. Doch um eine solche zu verfassen, muss man urteilsfähig sein. Wie können urteilsunfähige Menschen verbindlich mitteilen, welche Betreuung und medizinischen Massnahmen sie am Lebensende möchten, sodass die Entscheidungsfindung in ihrem Sinne geschieht?

Während einer Advance-Care-Planning-Ausbildung habe ich mich stark mit dieser Frage auseinandergesetzt. Es gibt mittlerweile verschiedene Instrumente zur gesundheitlichen Vorausplanung bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Zum Beispiel eine sogenannte Vertreterdokumentation. Diese wird mit den vertretungsberechtigten Personen erarbeitet – unter bestmöglichem Einbezug der Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Es empfiehlt sich, auch den Heimarzt oder die Hausärztin zu involvieren. Ziel ist, dass das Umfeld – also beispielsweise das Team in einem Wohnheim – weiss, wie im Notfall zu reagieren ist.  Weiter gibt es ein sehr gutes Dokument zur Vorbereitung einer Hospitalisation, das verschiedene Verbände zusammen erarbeitet haben. Mittlerweile haben auch viele Institutionen für Menschen mit Beeinträchtigung eigene Konzepte entwickelt, um die Wünsche und Bedürfnisse Betroffener zu dokumentieren. 

Aber ist nicht unglaublich schwierig, zusammen mit Menschen, deren Kommunikations- und Urteilsfähigkeit eingeschränkt ist, das Lebensende zu planen?

Natürlich kann man sich mit einem Menschen mit einer starken kognitiven Beeinträchtigung nicht einfach zwei Stunden hinsetzen und alles regeln. Vielmehr gilt es, diese Thematik zu Lebzeiten immer wieder aufzugreifen und sich auf diese Weise langsam an die Wünsche und Bedürfnisse der Person heranzutasten. Im Alltag gibt es viele Situationen, die als Anknüpfungspunkte dienen können, weil sie zum Nachdenken über Leben und Tod anregen: sei es eine Fernsehsendung, ein toter Vogel im Garten oder der Verlust von Angehörigen. Auch lässt sich die Erfahrung aus früheren Spitalaufenthalten nutzen, um herauszufinden, wie eine Person zu Hospitalisationen und lebenserhaltenden Therapien steht. Man kann zum Beispiel fragen: «Wie war das für dich, als du die Infusion bekommen hast?» Für dieses Abtasten braucht es Zeit und Einfühlungsvermögen. Aber es ist wichtig, diesen Effort zu leisten und die Betroffenen miteinzubeziehen. Inklusion ist nicht nur in gesunden Tagen wichtig, sondern auch wenn es ums Sterben geht.

Welche Rahmenbedingungen braucht es ganz allgemein, damit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung eine gute palliative Betreuung erhalten – unabhängig davon, ob sie ihr Lebensende bei Angehörigen, im Wohnheim oder im Spital verbringen?

Ich habe in meiner Masterarbeit die Rahmenbedingungen eines Wohnheims mit Pflegeheimstatus untersucht, kann also vor allem dazu Auskunft geben. Der Pflegeheimstatus stellt in diesem Wohnheim die gesicherte und geklärte Finanzierung dar, um medizinisch-pflegerische Behandlungen via Krankenkasse überhaupt abrechnen zu können. Das ist die Basis für eine gelingende palliative Begleitung in einem Wohnheim. Darüber hinaus ist ein hohes Engagement aller beteiligten Berufsgruppen notwendig. Die Fachpersonen müssen entsprechend geschult sein, über Grundwissen zu Palliative Care verfügen und Bereitschaft mitbringen, sich mit dem Thema Sterben und Tod und allfälligen damit verbundenen ethischen Dilemmata auseinandersetzen zu wollen.

Gibt es möglicherweise seitens von Fachleuten Vorurteile gegenüber Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, die einer angemessenen medizinischen und palliativen Versorgung im Wege stehen?

Vorurteile sind mir persönlich noch nie begegnet. Vielmehr fehlt es insbesondere Pflegenden an Wissen über Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Das zeigen verschieden Studien. Dazu kommt eine grosse Unsicherheit, die ich bei meiner früheren Tätigkeit im Unispital Zürich auch bei mir selbst gespürt habe. Ich war damals beeindruckt, wie professionell das Team Situationen mit kognitiv beeinträchtigen Menschen meisterte. Auf Seite der Wohnheime bräuchte es wiederum mehr Wissen über Palliative Care. Das Unwissen auf beiden Seiten rührt vielleicht auch daher, dass es sich bei der Palliative Care für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung um ein doppeltes Tabu handelt. Die Verknüpfung der beiden Tabuthemen «kognitive Beeinträchtigung» und «Sterben und Tod» führt zu einem komplexen pflegerischen Phänomen.

Welche Erkenntnisse aus Ihrer Masterarbeit und aus Ihrer Weiterbildung allgemein helfen Ihnen in der Berufspraxis besonders?

Der MAS Palliative Care hat mir insgesamt geholfen, das Gesundheitssystem mit all seinen föderalen Eigenheiten, die auch die palliative Versorgung betreffen, viel besser zu verstehen. Ich kenne nun die Schwierigkeiten, Herausforderungen und Finanzknappheiten. Weiter habe ich das Rüstzeug und die Sicherheit erlangt, um in Fragen der Palliative Care innerhalb meiner Organisation, aber auch in externen fachlichen Gremien mitzuwirken. Auch im Bereich gesundheitliche Vorausplanung konnte ich mir viel zusätzliches Wissen erarbeiten und ich kann mir gut vorstellen, anderen Institutionen damit beratend zur Seite zu stehen.

MAS Palliative Care

Im multiprofessionell ausgerichteten MAS Palliative Care an der OST – Ostschweizer Fachhochschule erarbeiten Gesundheitsfachpersonen Versorgungsansätze für die Pflege und Betreuung von Menschen mit schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen, die sich in der letzten Lebensphase befinden. Sie erlangen die Kompetenz, unterschiedliche Konzepte und Handlungsansätze für ihren Bereich kritisch auszuwählen, zu integrieren und zu evaluieren. Dies mit dem vorrangigen Ziel, die Versorgung von Menschen in palliativen Situationen im interprofessionellen Kontext zu optimieren und zu einer verbesserten Lebensqualität der Betroffenen und deren Angehörigen beizutragen.

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