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Ilona Ruegg: «Hot Spot» und «The Unseen»

2025 sind drei Arbeiten der Schweizer Künstlerin Ilona Ruegg (*1949) am OST-Campus in Rapperswil-Jona hinzugekommen. Die skulpturale Arbeit «Hot Spot» (2017) ist im Gebäude 1 (Eingangshalle Süd) zu finden, die beiden grossformatigen Fotos aus der Serie «The Unseen» (2021) erblickt man direkt am Eingang von Gebäude 4. Die Arbeiten gehören der Kunstsammlung des Kantons St.Gallen an und sind eine permanente Leihgabe an die OST.

Ilona Ruegg arbeitet häufig mit Gegenständen aus der Alltagsrealität, die eine klar umrissene Funktion haben, und versetzt diese in eine neue, ungewohnte Situation. Sie löst somit Teile der uns umgebenden Wirklichkeit aus ihrer Zweckbestimmung heraus. Diese Dekontextualisierung hat einen verfremdenden Effekt, der den unvorbereiteten Betrachter irritieren mag. Die Verfremdung erlaubt jedoch einen frischen Blick auf die Gegenstände, die uns so vertraut sind, dass wir sie nicht mehr wahrnehmen. Funktionalität und explizite Wahrnehmung schliessen sich gegenseitig oft aus: Ich öffne eine Tür, indem ich die Türklinke hinunterdrücke. Das ist ein automatisierter Vorgang, der normalerweise so gut funktioniert, dass das Aussehen der Türklinke durch ihre Nutzung gewissermassen verschwindet, unsichtbar wird. Die alltäglichen Dinge und Verrichtungen geraten aus dem Blick. Sie werden unbewusst, weil sie unserer Aufmerksamkeit nicht bedürfen, um ihre Funktion zu erfüllen.

Die künstlerische Zweckentfremdung von Gegenständen begreift Ilona Ruegg als einen Akt der Befreiung, die herkömmliche Zusammenhänge öffnet und hinterfragt. Dadurch ergeben sich neue Möglichkeiten. Robert Musil hat in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften ein Kapitel dem «Möglichkeitssinn» gewidmet, den er folgendermassen definiert: «alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.» Die Arbeiten von Ilona Ruegg können einen solchen Möglichkeitssinn erwecken:

«Ich bevorzuge Objekte, Materialien und Prozesse, zu denen der Mensch eine schon lange bestehende Beziehung hat und die bewusst oder unbewusst einen Platz in seinem Gedächtnis haben. Die Dinge können aus ihrem ursprünglichen Kontext und ihrer ursprünglichen Funktion herausfallen, sich frei formieren und dadurch neue Möglichkeiten bilden.» (Ilona Ruegg)

Kontakt

Elias Torra
Leiter Fachstelle Kunst

+41 76 420 91 69
elias.torra@ost.ch

Weitere Informationen

Hot Spot

Ilona Ruegg, Hot Spot (2017), 5 Radiatoren verformt, Heizungsrohre Chromstahl.
Ilona Ruegg, Hot Spot (2017), 5 Radiatoren verformt, Heizungsrohre Chromstahl
Ilona Ruegg, Hot Spot (2017), 5 Radiatoren verformt, Heizungsrohre Chromstahl.
Ilona Ruegg, Hot Spot (2017), 5 Radiatoren verformt, Heizungsrohre Chromstahl

Die fünf Radiatoren, aus denen die Plastik Hot Spot (2017) besteht, geben keine Wärme ab. Sie bleiben kalt. Sie erinnern an ihre alltägliche Funktion, ohne diese zu erfüllen. Das für Heizungsanlagen verwendete Rohrsystem bildet nur die Trägerkonstruktion. Es verbindet die Radiatoren miteinander und bildet ein geschlossenes System ohne Energiequelle. Die Radiatoren wurden mit einer hydraulischen Presse aus der Form gepresst und verdreht. Man kann sich die gewaltigen Kräfte vorstellen, die hier gewirkt haben.

«Hot Spot ist aus der Betroffenheit über die prekäre Lage der Flüchtlinge, die ab 2015 aus Syrien nach Europa strömten, entstanden. Damals wurden von der EU in Griechenland und Italien sogenannte Hotspots als Registrierungszentren gegründet. Hier erweitern die Radiatoren, durch ein Heizungsrohrsystem verbunden, die Konnotationen.» (Ilona Ruegg)

Als die Europäische Kommission im Rahmen ihrer Europäischen Agenda für Migration im Frühjahr 2015 ein Konzept von Erstaufnahme- und Registrierungszentren vorschlug und dafür die Bezeichnung Hotspots wählte, war diese Wortwahl übrigens von Anfang an umstritten. Ein hot spot meint im übertragenen Sinne einen Krisenherd oder Brennpunkt. Die metaphorische Bedeutung bewahrt den eigentlichen Wortsinn («heisse Stelle»). Der semantische Ausgangspunkt von Ilona Rueggs Plastik ist das Wörtlichnehmen der Metapher.

Im Kontext der Flüchtlingskrise erinnern die verdrehten Heizkörper an die im Krieg zerstörten Gebäude und den Verlust des Zuhauses. Die Heizkörper verdichten symbolisch zentrale Aspekte der Lebenssituation von Flüchtlingen. Man kann Hot Spot als Denk- oder Mahnmal für die Flüchtlingskrise verstehen. Nahe liegt auch der Bezug auf die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern, in denen die Menschen in den Zelten extremer Kälte und Hitze ausgeliefert sind. Die Deformation der Heizkörper ist mithin nicht nur als Akt der Zerstörung aufzufassen, sondern auch als ein Modus des Freilegens, das neue Bedeutungen entstehen lässt.

The Unseen

Ilona Ruegg, The Unseen – Operated, 2021.
Ilona Ruegg, The Unseen – Operated, 2021 (Foto: Ilona Ruegg)
Ilona Ruegg, The Unseen – Restricted, 2021.
Ilona Ruegg, The Unseen – Restricted, 2021 (Foto: Ilona Ruegg)

Die beiden grossformatigen Fotos stammen aus der Serie The Unseen und sind eine Übertragung der installativen Arbeit Equation of Loss 2 (2020) in das Medium der Fotografie. Die Installation bestand aus Warenlaufbändern, Lagergittern und Lifttüren, die im Kunstmuseum St.Gallen eine neue, ungewohnte Konstellation bildeten. Während des Lockdowns ging die Künstlerin ins geschlossene Museum, um ihre Installation zu fotografieren. Dies tat sie jedoch nicht zu Dokumentationszwecken:

«Ich interessierte mich für das Verschwinden dieser Installation, indem ich sie fotografierte. Also ging ich ganz nah heran. Mein Auge konnte nicht mehr gut erkennen. Aber das iPhone erfasste die Dinge noch problemlos und eröffnete mir sehr komplexe, neue Räume, die ich nicht erfunden hatte. Wenn ich die Bilder vergrößerte, schien es, als könnte man diese entstehenden Räume betreten und durchqueren. Manchmal wirken sie fließend oder haben nicht den Widerstand, den wir normalerweise spüren – wie etwa bei unseren Körpern und anderen Körpern und Objekten im Raum.» (Ilona Ruegg im Gespräch mit dem Physiker James Beachem, in: Bomb Magazine, 158, Winter 2022, S. 26–36)

Die fotografierten Objekte verschwinden, stattdessen erscheint eine «verborgene unbekannte räumliche Umgebung», ein Raum, der in der Imagination betreten werden kann. Der Künstlerin geht es hierbei um den «Versuch, vom Gegebenen auszugehen, um zum ‘Aufgegebenen’ zu gelangen, zu etwas Neuem, zu etwas Befreitem, das sich nicht fassen lässt, das ohne Maßstab ist.» (Ilona Ruegg)

Traten die Gegenstände in der Installation bereits unvertraut in Erscheinung, indem sie neu konfiguriert wurden (beispielsweise lag eine Lifttür auf dem Boden), so sind die Gegenstände auf den Fotos nicht mehr zu erkennen. Es erscheinen keiner bekannten Wirklichkeit zuzuordnende Strukturen, ohne Gegenständlichkeit, ausser man hält an der Illusion fest, dass Fotos in Zeiten digitaler Bearbeitung notwendigerweise eine ausserfotografische Wirklichkeit abbilden.

Der Titel der fotografischen Serie, The Unseen, das Ungesehene, ist paradox. Es ist, wie wenn die Künstlerin in ihren Fotos das Unsichtbare durch das Sichtbare darstellen wollte. Ilona Rueggs konzeptuell anspruchsvolle Arbeiten bieten eine beeindruckende Vielzahl solcher Herausforderungen, die dazu inspirieren, die gängige Eindimensionalität des Denkens, Schauens und Fühlens aufzubrechen.

Biografie Ilona Ruegg

Ilona Ruegg (*1949 in Rapperswil) erhielt ihre künstlerische Ausbildung 1970–1972 an der Université de Vincennes (arts plastiques) in Paris. Von 1978–1980 Studium an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien. Reisen nach Marrakesch (1973), in die Mongolei und nach Australien (1988–1989). Zahlreiche Auszeichnungen: 1984 Louise Aeschlimann-Stipendium. 1984–85 Stipendiatin des Istituto Svizzero in Rom. 1985, 1986 und 1987 Eidgenössisches Kunststipendium, 1987 Prix Barclay, 2001 Prix Meret Oppenheim. 2004 und 2013 Anerkennungspreis der Kulturstiftung UBS, Schweiz. Erste Einzelausstellung 1984 in der Berner Galerie in Bern. 1987 Teilnahme an der Ausstellung Stiller Nachmittag, Kunsthaus Zürich. Seither zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland. 1984–2011 lebte Ruegg in Frankfurt, Brüssel, Turin und Rom, seit 2012 lebt und arbeitet sie in Zürich.